201708.04
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„Gröbste“ Fahrlässigkeit ist kein Vorsatz

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Das Urteil des Landgerichts Berlin (LG Berlin, Urt. v. 27.02.2017 – 535 Ks 8/17, vgl. Veröffentlichung auf der Seite des Kollegen Burhoff http://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/4001.htm) mittels dessen zwei Angeklagte, die bei einem illegalen Autorennen einen unbeteiligten Passanten getötet haben, des Mordes für schuldig befunden wurden, wurde schon breit diskutiert und bedarf an sich keiner weiteren Erörterung. Jedoch zeigt eine Verteidigung des Urteils von Puppe in der aktuellen Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS, 2017, Entscheidungsanmerkung zu LG Berlin, Urt. V. 27.2.2017 – 535 Ks 8/17,  S. 439 – 444; im Internet erhältlich unter http://www.zis-online.com) vielleicht noch klarer als das Urteil selbst, dass hier eine neue Vorsatzform eingeführt wird. Ich nenne diese Form der Einfachheit halber „Gröbste“ Fahrlässigkeit.


Die Autorin bemüht sich in ihrem Aufsatz das Urteil des Landgerichts damit zu rechtfertigen, dass sie darauf verweist, dass die Angeklagten „krass unvernünftig“ gehandelt hätten und dass wenn „eine Gefährdung anderer so groß, anschaulich und unbeherrschbar (sei), dass ein vernünftiger Mensch sie nicht eingehen könnte, wenn er den Erfolg nicht will,(…), sich der Täter, der die Gefahr gleichwohl eingeht, so behandeln lassen (müsse), als hätte er den Erfolg gewollt“ (Puppe, a. a. O., S. 442).


Diese Argumentation führt aber dazu, dass es nicht mehr auf Wissen und Wollen ankommt, sondern auf ein Wissen-Müssen. Kernpunkt ist also eine Sorgfaltspflichtverletzung. Genau dies ist aber das Wesensmerkmal der Fahrlässigkeit und eben nicht des Vorsatzes.


Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob man der von der Rechtsprechung präferierten Einwilligungstheorie oder einer anderen in der Wissenschaft diskutierten Vorsatztheorie folgt. Bei allen Vorsatztheorien geht es nur darum, ob das Wissens- oder das Willenselement stärker wiegt. Puppe legt in ihrer Anmerkung aber sehr deutlich dar, dass die Angeklagten weder wollten noch wussten, sondern nur hätten wissen-müssen.


Sie schreibt: „Mehr noch, sie wollten dezidiert, dass es nicht zu einem Unfall kommt. Denn ein Unfall war mit dem von ihnen verfolgten Handlungsziel, einen Sieger des Rennens zu ermitteln, schlechthin unvereinbar“ (Puppe, a. a. O., S. 441).


Und weiter: „Auch ist ihr Wille, dass es nicht zu einem Unfall kommen möge, zwar eindeutig vorhanden, aber schwach“ (Puppe, a. a. O., S. 441).


Das Fehlen der Elemente Wissen und Wollen hält Puppe aber nicht davon ab, trotzdem Vorsatz anzunehmen, denn die Angeklagten haben gegen die Maßstäbe „rechter Vernunft“ verstoßen und „krasse Unvernunft“ gezeigt (Puppe, a. a. O., S. 442).


Dass die Autorin die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung stützt, ihr die Verurteilung wegen Mordes aber doch zu hart erscheint, weil sie eine engere Auslegung des Mordmerkmals des gemeingefährlichen Mittels bevorzugt, sei nur am Rande erwähnt und spielt für die hier diskutierte Gleichsetzung einer „gröbsten“ Fahrlässigkeit mit einer vorsätzlichen Begehung keine Rolle.


Die Urteilsanmerkungen Puppes zeigen vielleicht aber noch deutlicher als das Urteil selbst, dass die Grenzen zwischen Fahrlässigkeit und bedingten Vorsatz durch die Entscheidung des Gerichts – sollte sie denn vor dem BGH Bestand haben – endgültig aufgehoben werden würden. Es war schon immer klar, dass zwischen bewusster Fahrlässigkeit und dolus eventualis ein „fließender Übergang“ (vgl. Arzt, Rudolphi-Fs 2004, 2, 4) besteht, wenn aber nunmehr eindeutig festgestellt wird, dass sowohl kein Willens- als auch kein Wollenselement mehr erforderlich ist, um eine vorsätzliche Begehung anzunehmen, kommt es alleine darauf an, was Richtern als „rechte Vernunft“ erscheint und damit sind die Tore für die jederzeitige Annahme einer vorsätzlichen Begehungsweise weit geöffnet.